Das Andere als der Schlüssel zu sich selbst
Wenn Wissenschaftskonferenz und Wirtschaftsfaktor zusammenspielen: ein Gespräch mit Prof. Edwin Keiner, der in der ersten Septemberwoche den Kongress der Erziehungswissenschaftler mit über 2.500 Teilnehmern an die Uni Bozen holen wird. Eine Bestandsaufnahme.
Was macht diese Großkonferenz ECER so besonders für Bozen?
Prof. Edwin Keiner: Die European Conference on Educational Research (ECER) wird von der European Educational Research Association (EERA) organisiert, die sämtliche europäischen und teilweise außereuropäischen Gesellschaften für Erziehungswissenschaften und deren Professor*innen umfasst; das dürften insgesamt 15.000 Mitglieder in knapp 40 nationalen und regionalen akademischen Gesellschaften sein. Jährlich treffen sich davon 2.500-3.000 Wissenschaftler*innen in einer europäischen Großstadt, in diesem September in Bozen. Für Bozen heißt das, dass die Stadt sich damit als Tagungsort in die großen europäischen Hauptstädte einreiht: Porto, Budapest, Dublin, Kopenhagen etc.
Sie haben die Freie Universität Bozen als Austragungsort beworben – was hat letztendlich den Ausschlag für Bozen gegenüber anderen Großstädten gegeben?
2014 standen im Vorfeld auch noch Universitäten aus Polen und aus Malta zur Wahl. Unsere Mehrsprachigkeit, die gute Infrastruktur, das europäische Flair, der Bezug zu Italien und dem Süden waren wohl ausschlaggebend dafür, dass die Wahl auf Bozen gefallen ist. Eine Reihe von Kolleg*innen im Council kannte natürlich Südtirol und wusste um die landschaftliche Schönheit, kulturelle Vielfalt und auch die logistischen Stärken. Es gab kleinere Sorgen wegen der Unterkünfte und der Frage, ob wir eine Größenordnung von 2.500 bis 3.000 Kongressteilnehmer*innen überhaupt stemmen können - diese Sorgen konnten wir erfolgreich zerstreuen.
Bei Großveranstaltungen wie ECER kommt neben dem Faktor Wissenschaftskonferenz auch der Wirtschaftsfaktor hinzu. Wie passen diese zwei Dinge für Sie zusammen?
Bei ECER werden wir Bildungswissenschaft und Bildungspraxis in Bezug setzen, wodurch die Wirtschaft schon unmittelbar mit dabei ist. Für die Wirtschaft heißt dies zweierlei. Erstens wollen wir dem Vorurteil entgegentreten, dass das Land Südtirol bezahlen muss, haben wir doch über eine Viertel Million Euro für diese Konferenz aus dem Ausland eingeworben. Wir wissen zweitens, dass eine Konferenz dieser Größenordnung auch wirtschaftlich positive Auswirkungen auf die Region hat, und zwar nicht nur temporär durch die vielen Übernachtungen, die Gastronomie oder Souvenirkäufe. Manche bringen auch ihre Familien oder Kinder mit und hängen Urlaubstage an. Diese Erfahrungen werden für viele Kolleg*innen ein Anker sein, Südtirol in seiner Vielfältigkeit als einen europäischen Raum wahrzunehmen, in welchem das Luxuriöse, das Kulinarische, das Einfache und das Ökologische sich produktiv miteinander verbinden. Die Universität und ihre Fakultäten tragen entscheidend dazu bei, genau diese Wirtschaftsfaktoren mit zu unterstützen.
Welche Effekte erwarten Sie sich aus wissenschaftlicher Sicht von dieser Konferenz für die Universität?
Die Universität wird temporär zu einem Raum internationaler, wissenschaftlicher Kommunikation über eine große Bandbreite erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Themen in Europa. Hier verdichten sich Themen, die weit über unser Rahmenthema „Inclusion and Exclusion“ hinausgehen. Dies kann für die Bildungswissenschaften mittelfristig auch dazu führen, vorhandene internationale Netzwerke zu stabilisieren, auszubauen und neue zu erschließen und damit den Prozess der Internationalisierung voranzutreiben. Darüber hinaus kann eine solche Konferenz dazu beitragen, die spezifischen Profile der Universität und der Fakultät für Bildungswissenschaften international sichtbar zu machen. Dazu zählen insbesondere die Mehrsprachigkeit und die Tatsache, dass der Kindergarten und die Grundschule einen institutionellen Zusammenhang in der Ausbildung bilden und die Ausbildung auf dem Master-Level erfolgt.
Und in Bezug auf die Forschung?
Ich würde mich freuen, wenn die Konferenz dazu beiträgt, die Forschung in den Bildungswissenschaften stärker zu internationalisieren. Die Ansätze sind vorhanden und gut, und das Engagement der Kolleg*innen ist hervorragend. Hier kommt vor allem auch der Faktor Inklusion ins Spiel, besonders bedeutsam in Italien.
Also können solche Wissenschaftskongresse auch dazu führen, dass das eigene Selbstbewusstsein der ganzen Community gestärkt wird?
Das kann ich nachdrücklich unterstreichen. Dass der Ruf der Bildungswissenschaften nicht der beste ist, ist auch ein regionales Problem, aber das gilt für Italien ebenso wie für Österreich und Deutschland. Anders etwa in Finnland, dort sind Lehrpersonen höchst angesehene Fachkräfte und auch die Bildungswissenschaften genießen einen hervorragenden Ruf.
Die Universität wird temporär zu einem Raum internationaler, wissenschaftlicher Kommunikation über eine große Bandbreite erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Themen in Europa.
Was kann man sich unter dem Thema der diesjährigen Konferenz „Inklusion und Exklusion“ vorstellen?
Wir reden ja in Italien gerne von Inklusion. Man kann aber Inklusion ohne Exklusion nicht denken. Wenn ein Kind die Klasse wiederholen muss, ist es eine Exklusion aus der ehemaligen Klasse und zugleich eine Inklusion in eine neue Klasse. Es gibt auch die Inklusion der Exkludierten und die Exklusion der Inkludierten.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Kinder und Jugendliche müssen heutzutage, überspitzt gesprochen, permanent performativ sein, sich anstrengen, sich darstellen, im Wettbewerb stehen, mobil sein, international sein, vernetzt sein und sie müssen viele Sprachen sprechen können. Welche Folgen hat so ein Bild der ‚High Performer‘ für Exklusion, Inklusion, Integration und Partizipation? Wie verhalten sich diese Begriffe und Phänomene zueinander und welche Werte werden damit verbunden?
Wie fügt sich in diesem Zusammenhang Ihr Forschungsfeld ein?
Ich lehre im Bereich der Allgemeinen Pädagogik und Sozialpädagogik und setze meinen Forschungsschwerpunkt im Bereich der vergleichenden Wissenschaftsforschung. Dabei untersuche ich unterschiedliche Lehr- und Forschungskulturen der Bildungswissenschaften in unterschiedlichen Ländern. Auch hier in Südtirol leben wir in verschiedenen Lehr- und Wissenschaftskulturen, siehe z.B. die italienische, deutsche und ladinische Abteilung der Bildungswissenschaften. Es wäre schön, wenn wir uns diesbezüglich etwas stärker wechselseitig wahrnehmen und dies als produktive Ressource nutzen würden. Diese hohe kulturelle Diversität ist ausgesprochen produktiv gegenüber einer doch eher monolingualen, angloamerikanischen Wissenschaftskultur, die immer davon ausgeht, man würde sich im Englischen ‚irgendwie‘ schon verstehen.
Kann man eben aus dieser Optik ECER als ökologische Ressource in den Bildungswissenschaften lesen?
Ja, ECER kultiviert die Vielfalt, sie diskriminiert nicht, sie versucht nicht, einen Wissenschaftsstandard anderen überzustülpen, sondern sie pflegt die Variety und macht die Variety zu einer Diversity. Also varietà und diversità sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Im Deutschen wird das meistens verwechselt, alle sprechen nur von Vielfalt, aber es geht um Unterschiedlichkeit. Der Respekt, die Wahrnehmung und der Versuch, das zu verstehen, was das Unterschiedliche ist, lässt einen seine eigene Identität besser begreifen. Das Andere ist der Schlüssel zu sich selbst.
Bilder: Annelie Bortolotti.
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