Wo sich Technik und Wirtschaft treffen, gibt es auch eine große Hebelwirkung für ein Reset von Produktionsmethoden. Warum auch Wirtschaftsingenieure Nachhaltigkeitsapostel sein können.

Sustainability and corporate social responsibility pay off – Nachhaltigkeit und Unternehmensverantwortung rechnen sich: Eine Behauptung, die Guido Orzes schwarz auf weiß belegen kann. Gemeinsam mit einer Forschungsgruppe im Bereich Wirtschaftsingenieurwesen der University of York (UK), des Politecnico di Milano, und der Universität Udine hat der Forscher der Fakultät für Naturwissenschaften und Technik der unibz in einer Ereignisstudie untersucht, wie sich die Nachhaltigkeits- und Ethikstandards SA 8000 und United Nations Global Compact (UNGC) auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Unternehmen auswirken. Auf Basis von Sekundärdaten der nordamerikanischen Plattform S&P Capital IQ erarbeitete das Forschungsteam, wie sich einige Schlüssel-Kennzahlen von fast 1000 Unternehmen in drei Jahren nach Beginn des Zertifizierungsprozesses im Vergleich zu einer nicht zertifizierten Kontrollgruppe entwickelten. Das Ergebnis: „Die Umsätze und Rentabilität der zertifizierten Unternehmen zeigten meist einen signifikanten Anstieg. Durch eine SA8000 Zertifizierung, die durch Dritte erfolgt und damit noch verbindlicher ist, stieg sogar die Produktivität“, so Guido Orzes.

Sein langjähriges Interesse für Nachhaltigkeit verbindet Orzes an der Fakultät für Naturwissenschaften und Technik mit einem weiteren Wirtschaftsingenieur: Philipp Sauer stieg durch sein Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der Universität Kassel über nachhaltige Energie in das Thema Nachhaltigkeit ein, um es später im Bereich Lieferkettenmanagement zu vertiefen. Letzteres bleibt bis heute ein fruchtbares Forschungsfeld. „Wie nun in Zeiten der Pandemie noch deutlicher wurde, hat die Auslagerung eines Großteils unserer Produktion in Niedriglohngebiete auch zahlreiche problematische Folgen. In Bezug auf Nachhaltigkeit zeigt die Forschung klar, dass die größten Problematiken in frühen Teilen der Lieferkette wie der Rohstoffgewinnung und der Produktion von Vor- oder Endprodukten auftreten“, erklärt Sauer. Mit der Auslagerung hätten westliche Industrienationen also auch teilweise die Verantwortung und Kontrolle über die Konditionen abgegeben, unter denen ihre Produkte entstehen. Wirtschaftsingenieure, die sich mit ihren wirtschaftlichen wie technischen Kompetenzen nicht nur der Produktionsplanung innerhalb von Unternehmen, sondern auch den Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Unternehmen widmen, bringen gute Voraussetzungen mit, dies wieder zurechtzurücken. Vor allem wenn das Thema Nachhaltigkeit mit weiteren Forschungsschwerpunkten wie Global Operations Management und Industrie 4.0 verknüpft wird, wie bei den Wirtschaftsingenieuren an der Fakultät für Naturwissenschaft und Technik.

Wie vertragen sich Covid-19 und Nachhaltigkeitspraktiken? 

Über Literaturrecherchen, vertiefende Fallstudien und breiter angelegte Umfragen sowie auf Basis von Sekundärdaten erstellten Datenbanken beleuchtet das Forschungsteam um Orzes und Sauer die Organisation und das Management der weltweiten Produktion und Logistik von Gütern sowie ihre soziale und ökologische Verträglichkeit. Ein hochaktuelles Beispiel? Mit Unterstützung des EurOMA Yong Scholar Networking Grant untersucht Philipp Sauer derzeit gemeinsam mit Kollegen aus Großbritannien und Frankreich über eine Befragung, ob Nachhaltigkeitspraktiken im Zuge der Coronakrise unterbrochen, abgeschafft oder beibehalten werden und welche Gründe jeweils dahinterstehen. Ziel des Projekts ist es nicht nur einen Überblick über die Auswirkungen von Covid-19 auf die Nachhaltigkeitsbemühungen der europäischen Wirtschaft zu erhalten. „Wir wollen auch ein Design von Nachhaltigkeitspraktiken erstellen, um diese resilienter zu machen, also dafür zu sorgen, dass sie in künftigen Krisen höchstens noch unterbrochen, aber nicht mehr abgeschafft werden“, so Sauer.

Inputs für die infolge der Pandemie verstärkten Diskussionen über das Reshoring ausgelagerter Produktionen gibt eine Datenbank, die Guido Orzes in einem Projekt mit den Universitäten Udine, Bologna, Catania und L‘Aquila sowie der EU-Agentur Eurofound erstellt hat (European Monitor on Reshoring). Die Analyse von 529 Produktionsrückverlagerungen von Unternehmen mit Sitz in den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien zeigt auf, wie unterschiedlich die Rückverlagerungen in verschiedenen Staaten verlaufen und welche institutionellen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren das Phänomen beeinflussen. Vor allem Fallstudien machen Mut, dass ein Reset unseres Produktionssystems möglich ist – selbst wenn die vorherrschende Meinung das Gegenteil behauptet. Beispiele dafür bringen Philipp Sauers Forschungsarbeiten zu Lieferketten in der Elektronikindustrie. „Dort werden Rohstoffe wie Gold meist an der Börse eingekauft, womit oft nicht mehr nachvollziehbar ist, aus welchen Quellen sie stammen“, erklärt der Forscher der unibz. Lange Zeit hieß es, dass daran in komplexen Lieferketten nichts zu ändern sei – bis Nischenanbieter wie die Smartphone-Produzenten Shiftphone und Fairphone den Gegenbeweis antraten und begannen, direkte Kontakte zu Goldminen aufzubauen und damit die Börse zu umschiffen. „Wir haben untersucht, welche Praktiken sie anwenden und wie sie es im Gegensatz zu etablierten Playern schaffen, mehr Transparenz und fairere Produktionsbedingungen zu schaffen“, so Sauer.

Unternehmen gesucht!

Ein aktuelles Projekt von Guido Orzes mit Pasqualina Sacco vom Fraunhofer Italia und Yuri Borgianni, der an der unibz im Bereich Produktentwicklung forscht, soll Unternehmen wiederum ein Werkzeug in die Hand geben, um selbst bewerten zu können, inwiefern sie im Sinne einer Kreislaufwirtschaft operieren. Ausgehend von einer aufwändigen Literaturrecherche entwickelt die Forschungsgruppe ein Bewertungsmodell, das anhand von 15 Faktoren – von der Unternehmensvision über die Lieferantenauswahl und Partizipation der eigenen Mitarbeiter bis hin zum Ressourcenverbrauch – eine Selbsteinschätzung ermöglicht, wie nachhaltig und ressourcenschonend das eigene Unternehmen arbeitet. Nach einer Bewertung des Modells durch internationale Experten geht es nun darum, das Instrument konkret mit einer Gruppe von Unternehmen zu testen, um es dann allen interessierten Betrieben online zur Verfügung zu stellen. „Noch suchen wir Testkandidaten“, sagt Guido Orzes. Eine konkrete Möglichkeit für heimische Unternehmen, sich selbst auf die Probe zu stellen und am Reset mitzuarbeiten.

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