Gemeinsam über Stock und Stein
Freudvoll laufen die Kinder über vorbereitete Rechtecke mit verschiedenen Materialien, darunter Steine unterschiedlicher Größe und im Wald gemeinsam gesammelte runde Tannenzapfen. Die angebotenen Materialien sind ein Experimentierfeld für Kinder. Experimentieren, erkunden und lernen sind wichtige Aspekte frühkindlicher Entwicklung. Sie stehen deshalb im Zentrum des neuen Rahmenplans für frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder im Alter von 0-3 Jahren.
Der Rahmenplan dient dem Ziel, den Ausbau gleichwertiger und hochwertiger Kleinkindbetreuung zu unterstützen, um gerechte Entwicklungschancen für alle Kinder in Südtirol zu ermöglichen. Dieser Bildungsplan ist unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Ulrike Loch in Zusammenarbeit mit Dr. Laura Trott entstanden.
Im Sommer gehen die Kleinkinder barfuß wahrlich über „Stock und Stein“ und sensibilisieren dabei ihre sensorische Wahrnehmung. Wenn die Kinder wollen, dürfen sie auch anderweitig mit den Materialien spielen. Heute beschäftigen sich einige Mädchen mit den Tannenzapfen, sie legen sie in Reihen auf den Rasen. „Die angebotenen Materialien sind ein Experimentierfeld für die Kinder, sie regen zu unterschiedlichen Wahrnehmungen an“, erzählt Laura Trott, wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Projekt, mit Blick auf besagte Situation. Im Zuge der bisher zweijährigen Forschung besuchte Laura Trott verschiedene Einrichtungen in ganz Südtirol, um deren pädagogische Arbeit ethnografisch zu begleiten. Erstellt wurde der Rahmenplan unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Ulrike Loch, Professorin für Soziologie kultureller und kommunikativer Prozesse an der Fakultät für Bildungswissenschaften der unibz. In Auftrag gegeben hat das Projekt die Südtiroler Familienagentur.
Generell wächst in Südtirol das Angebot an Betreuung für Kinder im Alter von 0-3 Jahren beständig, da auch hierzulande Mütter berufstätig sein wollen bzw. müssen und alle Eltern ihre Kinder gut betreut wissen wollen. Mit Stand Sommer 2020 gibt es in Südtirol 14 Kinderhorte, 76 Kitas und 16 Betriebskitas (davon 6 mit gemischter Nutzung durch Betriebe und Gemeinde). In Zahlen ausgedrückt sind dies 50.000 betreute Kleinkinder in der Altersgruppe 0-3 Jahre, was einer Betreuungsquote von 19% für Südtirol gleichkommt. Zählt man das Betreuungsangebot der 240Tagesmütter und -väter hinzu, kommt man auf 25%.
Aus sozialer Sicht ist zu berücksichtigen, dass eine frühere Rückkehr der Frau bzw. der Eltern an den Arbeitsplatz zur Armutsvermeidung im Alter beiträgt.“
Die Europäische Union spricht in ihren Zielen für qualitativ hochwertige Betreuung von einer anzustrebenden Betreuungsquote von 33% für Kinder zwischen 9 Monaten und 3 Jahren. Damit möchte man auch auf die Geburtenziffer einwirken, die in Europa rückläufig ist. Für Südtirol beträgt sie 1,60 pro Frau, sie ist damit die höchste Italiens. In Österreich beträgt sie zum Vergleich 1,44. Deutschland weist beispielsweise eine Betreuungsquote von 32,3% auf, wobei einzelne Bundesländer wie Sachsen-Anhalt gar auf 58,3% kommen. Die Geburtenrate liegt dort bei 1,38. Ganz anders sieht es in Frankreich aus. Bei einer Betreuungsquote von 44% liegt die Geburtenziffer bei 2,01 pro Frau.
Wieso sind diese Zahlen wichtig? „Die Betreuungsquote erleichtert die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, fasst Prof. Ulrike Loch zusammen, „zudem ist aus sozialer Sicht zu berücksichtigen, dass eine frühere Rückkehr der Frau bzw. der Eltern an den Arbeitsplatz zur Armutsvermeidung im Alter beiträgt.“ Während noch vor wenigen Jahren viele Familien auf Kinderbetreuung durch die Großeltern zählen konnten, ist heute ein generationaler Wandel zu beobachten: Viele Familien leben mit einer Doppelbelastung, indem die Kinderbetreuung wegfällt und die Großeltern von den Eltern zu Hause gepflegt werden. Auch hier spricht ein Blick auf die Zahlen Bände: Die Frauenerwerbsquote in Südtirol steigt, was einerseits sicher auf die zunehmend schwierigere wirtschaftliche Situation der Familien zurückzuführen ist, andererseits aber auch auf die steigende Anzahl von Frauen mit höherem Ausbildungsgrad. So haben im akademischen Jahr 2012-13 7.898 Südtirolerinnen und 5.235 Südtiroler eine Universität in Italien oder Österreich besucht, was zur deutlichen Zunahme von Akademikerinnen unter den Eltern beiträgt. Die Frauenerwerbsquote liegt in Südtirol mit Stand 2019 bei 68%, während sie 1981 noch bei 45% lag.
Zur Unterstützung des Ausbaus der Betreuungsplätze finden sich im Rahmenplan nun die Grundlagen für landesweit gültige, gleichwertige und qualitativ hochwertige Rahmenbedingungen für Bildung, Erziehung und Betreuung in allen Kinderhorten, Kindertagesstätten und in den Tagesmütter-/Tagesväterdiensten. Wieso ist dies wichtig? Das Bildungsdokument der EU unterstreicht mit Blick auf die Kinder: eine solche „Erziehung trägt zu ihrer gesunden Entwicklung und ihrem Bildungserfolg bei, hilft beim Abbau sozialer Ungleichheiten und verringert die Kompetenzlücken zwischen Kindern mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund. Ein gerechter Zugang ist auch ausschlaggebend, wenn gewährleistet werden soll, dass Eltern, insbesondere Frauen, über die für den (Wieder-)Einstieg ins Arbeitsleben nötige Flexibilität verfügen.“ Das Erscheinen des Rahmenplans geht einher mit einem wachsenden politischen Bewusstsein dafür, dass hochwertige Kleinkindbetreuung eine kostspielige, aber lohnenswerte Investition in die Zukunft der Gesellschaft ist. Dies alles war Grundlage dafür, einen Rahmenplan für frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung auszuarbeiten, denn, um ein EU-Bildungsdokument zu zitieren: „Der Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung ist ein Recht aller Kinder.“
Während des partizipativen Forschungsprozesses haben wir nach Möglichkeiten der Übersetzbarkeit der unterschiedlichen Konzepte und der Verknüpfung gesucht, um das Nebeneinander der theoretischen Ausrichtungen in der Südtiroler Betreuungspraxis in einen dialogischen Prozess zu bringen
Der Ansatz für den Rahmenplan war partizipativ. Die aktive Zusammenarbeit mit den Trägern und Fachkräften der Kleinkindbetreuungsdienste und den Landesfachschulen für Sozialberufe ermöglichte die spezifische Verbindung zwischen relevanten pädagogischen Grundlagen, Grundsätzen demokratischer Gesellschaften wie den UN-Kinderrechten und den gesellschaftlichen Besonderheiten der Provinz. Die Erstellung eines solchen Konzepts, wie sie derzeit europaweit verfasst werden und wurden, war ausdrücklicher Wunsch der Familienlandesrätin Waltraud Deeg. Warum benötigt man aber überhaupt ein solches Konzept? Die Landesrätin beantwortete diese Frage bei der Vorstellung des Dokuments im September dieses Jahres: „Wir möchten mit diesem Rahmenplan Kindern in unserer Provinz qualitativ gleichwertige Betreuung garantieren, die zugleich auf die lokalen Besonderheiten eingeht und die Bedürfnisse der Kinder in den Mittelpunkt stellt. Und zu den Besonderheiten Südtirols gehören sicher die Dreisprachigkeit des Landes und die starke Familienorientierung.“
Eine Herausforderung bestand darin, die unterschiedlichen Theorietraditionen, v.a. im deutschen und im italienischen Sprachraum mit ihren unterschiedlichen Begriffsbildungen zu berücksichtigen. Viele dieser Theorietraditionen sind derzeit vor allem parallel im Alltag der Kleinkindbetreuungsdienste zu beobachten. „Während des partizipativen Forschungsprozesses haben wir nach Möglichkeiten der Übersetzbarkeit der unterschiedlichen Konzepte und der Verknüpfung gesucht, um das Nebeneinander der theoretischen Ausrichtungen in der Südtiroler Betreuungspraxis in einen dialogischen Prozess zu bringen“, erläutert Laura Trott. Schließlich sind es die Fachkräfte der Kleinkindbetreuungsdienste, welche – gemeinsam mit den Familien – die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder durch reflexive Beziehungs- und Interaktionsgestaltung begleiten. Sie sind es, die es den Kindern in den Betreuungsstunden das Kennenlernen und die Auseinandersetzung mit allgemeingültigen und demokratischen Werten ermöglichen, wie es Gemeinschaft, Solidarität, Gleichheit, Freundschaft, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Liebe und Familie sind. Nicht zuletzt deswegen ist der Zugang zu konzeptionell hochwertigen Strukturen so wichtig.
In den Worten von Professor Loch: „Ziel von Erziehung ist, Kinder durch intentionales Handeln sozial adäquat in der Entwicklung ihrer körperlichen, kognitiven, geistigen und psychischen Selbstständigkeit und der Persönlichkeitsentwicklung zu begleiten, sodass die Heranwachsenden an der Familie, den Kleinkindbetreuungsdiensten und der weiteren sozialen Umwelt entwicklungsangemessen teilhaben können.“ Denn je gefestigter das Vertrauen eines Kindes ist, desto interessierter und selbstbewusster erkundet es seine Umgebung. Kinder erleben so, dass ihre Beziehungen nicht zerbrechen, wenn es zu Konflikten kommt. Ihr Zugehörigkeitsgefühl kann durch partizipative und bedürfnisorientierte Konfliktlösungen gestärkt werden. Diese Erfahrungen stellen wichtige Bildungs- und Erziehungsprozesse dar. Indem Fachkräfte Konfliktlösungen und die Befindlichkeiten der Kinder nach Konflikten fachlich reflektieren, stärken sie die Interaktionsqualität des Kleinkindbetreuungsdienstes.
Im Rahmenplan wurden die grundlegenden Begriffe Bildung, Erziehung und Betreuung definiert, sie stellen das gemeinsame Fundament für die professionelle Praxis in den Kleinkindbetreuungsdiensten dar. „Eine qualitativ hochwertige Betreuung bedarf der Konzeptionalisierung. Die Lernprozesse von Säuglingen und die Qualität der Bildungsbestrebungen von Kleinkindern sind abhängig von der Betreuungs- und der Interaktionsqualität, die Kindern zur Verfügung gestellt wird. Hochwertige Betreuungsqualität ist wesentlich für das Erleben von Wohlbefinden von Säuglingen und Kleinkindern,“ so Ulrike Loch. Zur Unterstützung der flächendeckenden Umsetzung hochwertiger Betreuungsqualität erscheint der Rahmenplan in deutscher, italienischer und ladinischer Sprache, wie Verena Buratti, die Projektverantwortliche aufseiten der Familienagentur betont. Sie fügt an, „Die Inhalte des Rahmenplanes werden in die Konzeptionen der Kleinkindbetreuung eingearbeitet.“
Wie fügt sich das eingangs beschriebene Spielen in der freien Natur, das Erleben von natürlichen Materialen wie Steinen, Tannenzapfen und Wasser, in das Konzept ein? „Kindheit ist eine einzigartige Phase in der menschlichen Entwicklung, sie ist zugleich eine kritische Phase für die Zukunftsentwicklung von wohlhabenden im Sinne von materiell und sozial abgesicherten Familien und nachhaltigen Gesellschaften mit glücklichen Menschen“, betont Prof. Ulrike Loch. „Nicht umsonst werden als gegenwärtige Beeinträchtigungen des Wohlbefindens seitens der UNICEF beispielsweise Kinderarmut und vergleichsweise geringe körperliche Bewegung von Kindern festgestellt, die langfristige Konsequenzen für Gesundheit und Bildung und damit für die gesellschaftliche Entwicklung haben.“ Das Recht auf Spielen in der freien Natur und die Beteiligung im Sozialraum der Einrichtungen (also z.B. das Spielen auf Spielplätzen) ist im Rahmenplan verankert und es ermöglicht allen Kindern die Stimulation ihrer Sinne. Didaktische Inputs und eine kindzentrierte pädagogische Ausrichtung ergänzen im Rahmenplan die Kriterien für eine qualitativ hochwertige Frühpädagogik. Ziel des Rahmenplans und qualitativ hochwertiger Kleinbetreuung sind, Kindern gemeinsam mit ihren Angehörigen einen Mehrwert an Lebensqualität, Wohlbefinden, Teilhabe und frühkindlicher Bildung zu eröffnen. Dies ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft.
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