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Ganz so schlimm sei es um Europa nicht bestellt, ist EU-Experte Gabriel N. Toggenburg überzeugt. Doch die Situation in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten sei schwierig. Als Antwort für diese Krise „von unten“ sieht er einen New Deal für eine neue Art der Globalisierung. Und es brauche eine neue, positive Einstellung zur „res publica“, in der die Allgemeinheit und Zusammengehörigkeit wieder groß geschrieben werden.

US-Präsident Trump meinte zu Jahresbeginn, dass der Brexit eine „großartige Sache“ sei, und dass noch weitere Länder dem Beispiel des britischen Beitritts folgen werden. Und Marie Le Pen sagte den Tod der EU voraus. Ist die Lage tatsächlich so schlimm?

Toggenburg: Man muss wohl zwischen faktenorientierter Analyse und politischem Kalkül unterscheiden. Die zitierten Aussagen sind Letzteres. Aber man kann nicht leugnen, dass das Europa der EU in einer Krise steckt.

Aber war die EU nicht stets in der einen oder anderen Krise?

Toggenburg: Wir erleben eine noch nie da gewesene Gleichzeitigkeit an Krisenmomenten. Denken Sie nur an die nach wie vor präsenten Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise speziell in Griechenland, aber auch in Spanien oder Italien; an die Flüchtlingsbewegungen und die Krise der EU-Migrationspolitik; an die Rechtsstaatskrisen, die wir in den letzten Jahren in Ungarn, Rumänien oder aktuell in Polen sahen und sehen. Das rüttelt auf und stellt die Frage, wer Europa ist und welche Rolle es gegenüber seinen Mitgliedstaaten spielen soll. All das vor dem Hintergrund von Elitenverdrossenheit, Politikferne, Misstrauen dem Expertentum gegenüber. Und natürlich eines deutlich verunsicherten internationalen Umfelds, beeinflusst etwa vom Dreigestirn Trump, Erdogan und Putin, das einen Antipol zu dem darstellt, was man als offene Gesellschaften versteht. Aber diese Gleichzeitigkeit der Krisenbelastungen und Irritationen ist nicht das einzig Neue...

„Wir haben es auch mit einer Krise von unten zu tun. Es geht um die Schwäche der Staaten selbst.“

Was ist denn noch neu im negativen Sinne?

Toggenburg: Naja, in der Vergangenheit waren die Europa-Krisen meist sektoriell eingrenzbar. Die Skepsis richtete sich auf die Möglichkeit weitergehender Integrationsschritte und zielte nicht auf die Demontage des gegenwärtigen Integrationstands ab. Wir sind nun Zeugen des erstmaligen Austritts eines Mitgliedstaats. Und auch die Situation in den Mitgliedstaaten ist eine zunehmend neue...

Sie haben noch eine dritte Hiobsbotschaft?

Toggenburg: Ich befürchte ja, auch wenn sie nicht die EU selbst betrifft. Denn wir haben es auch mit einer „Krise von unten“ zu tun. Es geht um die Schwäche der Staaten selbst. Es ist schockierend zu lesen, dass das Vertrauen der Bevölkerungen in die 28 nationalen Regierungen und Parlamente seit vielen Jahren recht kontinuierlich abnimmt. 64 Prozent der Befragten sagt in den Eurobarometer Umfragen, dass sie ihren Regierungen „eher nicht vertrauen“. In Italien liegt diese Zahl bei skandalösen 81 Prozent und in Österreich bei immer noch bedauerlichen 60 Prozent. Wo Staatlichkeit so einen schwachen Stellenwert hat, kann es nicht erstaunen, dass internationale und europäische Bindungen dieser Staaten in das Visier von Populisten kommen. Diese versuchen sich in den Augen der Bürger als die einzig wahren Beschützer nationaler Interessen darzustellen. Vor den französischen Wahlen sprach man gar von der Möglichkeit, dass einer der wichtigsten Gründerstaaten aus der EU austreten könne. Das waren definitiv ganz neue Töne!

Das spricht aber irgendwie auch für eine neue Prominenz der EU?

Toggenburg: Das ist ein guter Punkt. Die EU war über Jahrzehnte kaum Gegenstand innenpolitischer Debatten. Darüber haben sich Berufseuropäer und Berufseuropäerinnen immer beschwert. Die EU war im Sinne eines so genannten permissive consensus, eines Art stillschweigenden Einverständnisses, positiv geduldet. Ein Elitenprojekt. Nun ist sie in der Mitte innenpolitischer Debatten angekommen. Aber wohl nicht so wie man es sich vorgestellt hat. Denn eine EU, der es über die Jahre nicht gelungen ist, die Herzen ihrer Bürger zu erobern, und die in der innenpolitischen Kommunikation fast ausschließlich auf die Regierungen ihrer Mitgliedstaaten angewiesen ist, bildet eine leichte Beute.

„Die EU war im Sinne eines so genannten permissive consensus, eines Art stillschweigenden Einverständnisses, positiv geduldet. Ein Elitenprojekt. Nun ist sie in der Mitte innenpolitischer Debatten angekommen.“

Was meinen Sie damit?

Toggenburg: Nun, in fast drei Viertel der EU Mitgliedstaaten steht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerungen der EU indifferent gegenüber. In nur sieben Ländern hat die Mehrheit ein ausdrücklich positives Bild der EU. Vor diesem Hintergrund ist es für die Europäische Union wenig vorteilhaft in Wahlkämpfe gezogen zu werden, die zunehmend vor dem Hintergrund einer neu konstruierten Bipolarität zwischen (angeblichen) Internationalismus und (angeblichen) Patriotismus stattfinden. Wobei ja diese falsche Dichothomie kein europäisches Problem ist...

Sie sprechen Trump an? Auch er spielt den Einsatz für die Heimat Amerika gegen die internationale Verantwortung Amerikas als Nullsummenspiel aus, oder?

Toggenburg: Ja. Im Westen – egal ob Europa oder Amerika –  scheint man um den abgehängten Wähler zu buhlen und auf diesem Altar internationale Mitverantwortung opfern zu wollen. Hier müsste man Europa in Stellung bringen als Model eines New Deals für eine neue Form der Globalisierung. Eine „gute Globalisierung“, die die Vorteile internationaler Vernetzung und Kooperation anstrebt aber ihre Kosten gerechter in den teilnehmenden Gesellschaften verteilt. Wo Globalisierung als unkontrolliertes Urphänomen wahrgenommen wird, das über machtlose Staaten hereinbricht, besteht die Gefahr, dass viele Bürger und Bürgerinnen auf die Retro-Traumblase einer Inselwelt hereinfallen. Also jene Erzählung wie sie von verschiedensten Populisten, Nationalisten, Identitären oder wie sie auch heißen mögen gepredigt wird: ein beschütztes nationales Inseldasein in dem der Staat und sein angeblich homogenes Volk wieder das alleinige Sagen haben.

 

„Wer sich von seinem Staat verlassen fühlt, wird auch kein Interesse daran entwickeln, ob und wie Staaten international kooperieren.“

Sie glauben, dass jene, die die EU tendenziell abschaffen wollen, keine Überzeugungstäter sind, sondern aus Angst skeptisch eingestellt sind?

Toggenburg: Nun, zumindest suggeriert eine EU-weite Studie der Bertelsmann Stiftung, dass politische Werteinstellungen, also ob jemand etwa mit autoritären Ideen sympathisiert, eine weit kleinere Rolle spielen als die Angst vor Globalisierung. Die große Mehrheit jener, die mit rechtsnationalen und populistischen Parteien sympathisieren, empfindet die Globalisierung als Bedrohung ihrer ganz persönlichen Lebensaussichten.

Was schließen Sie aus alledem?

Toggenburg: Dass man einen guten Teil der „Insulaner“ von internationaler Zusammenarbeit und Europäischer Integration überzeugen kann. Dazu müssen der Staat und die Gesellschaft wieder als Heimat für alle empfunden werden. Das ist möglich wenn diese Problemlösungskompetenz zeigen und nicht
hilflos wirken. Um ein Beispiel zu geben: statt Bildern unkontrollierter Marschkolonnen von Flüchtlingen quer durch Europa, muss man das Bild einer verantwortungsvollen effizient koordinierten Migrations- und Asylpolitik bieten. Darüber hinaus stellt sich die Frage des sozialen Zusammenhalts dringender denn je. Selbst im sozialen, reichen Skandinavien gibt es frappante Unterschiede etwa zwischen Stadtzentren und der Peripherie. So soll es Straßenzüge geben, an deren Anfang die Lebenserwartung um zwölf Jahre höher liegt als an deren Ende, irgendwo in der Peripherie. Quasi im Abseits. Wer sich aber derart von seinem Staat verlassen fühlt, wird auch kein Interesse daran entwickeln, ob und wie Staaten
international kooperieren.

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie EU-Skepsis damit erklären, dass Menschen dem Staat skeptisch gegenüber eingestellt sind?

Toggenburg: Ich denke dass nicht überall wo Europakrise draufsteht auch Europakrise drinnen ist. Probleme nationaler Gesellschaften werden mitunter auf die europäische Leinwand projiziert. Dennoch müssen diese Probleme „unten“ in den nationalen Gesellschaften angegangen werden. Auf sie baut die EU. Das ist wie bei einem Springpferd das eben nur so hoch springen kann wie seine Beine es erlauben. Wir sehen, dass öffentlichen Institutionen tendenziell sehr wenig vertraut wird. Man kann beobachten, dass die Berufssparten der Politiker, Polizisten, Lehrer und Beamten sehr wenig soziale Anerkennung genießen. Das ist doch ein schrillendes Alarmzeichen für jede Gesellschaft – das müssten die am meisten geachtetsten Berufsgruppen sein: sie stehen ja gerade für die Allgemeinheit, die res publica!

 

„Unsere Enkel werden, global betrachtet, in einem deutlich älteren, kleineren, ärmeren und politisch unwichtigerem Europa aufwachsen. Vor diesem Hintergrund unseren Kontinent durch Renationalisierung weiter zu schwächen wäre ziemlich absurd.“

Aber wenn es bereits Staaten sichtlich schwer fällt, den Menschen als Freund und Helfer zu erscheinen, wie soll das die EU je schaffen?

Toggenburg: Das hat Stefan Zweig bereits in den Dreißigerjahren in seinem Manifest zur „Einigung Europas“ als Problem beschrieben. Er sagte sinngemäß, dass nationale Zugehörigkeit ein Urinstinkt sei, quasi ein Gefühl, während der europäische Gedanke einer trägen Frucht eines abwägenden Denkens gleiche. Ich glaube man muss Europa erfahrbar machen. Für alle Menschen. Das Studentenaustauschprogramm der EU ist zum Beispiel ein toller Erfolg – mehr als eine halbe Million Menschen nehmen Erasmus jährlich in Anspruch und tauchen in eine neue europäische Kultur ein. Doch die Studenten sind eine kleine Gruppe, die bereits tendenziell Europa-affin sind. Es braucht für jede einzelne Europäerin, jeden einzelnen Europäer zumindest einen prägenden „Erasmus-Moment“
um Europa konkret zu erleben. Die neue Initiative des Europäischen Solidaritätskorps, das Menschen ab 17 Jahren offensteht, ist ein guter Schritt. Der Vorschlag des Europäischen Parlamentes, jedem jungen Bürger in der EU zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket zu schenken, ginge auch in diese Richtung.

Was sollten die Mitgliedstaaten beitragen?

Toggenburg: Ja, die müssten in erster Linie mehr Verantwortungsgefühl zeigen, wie sie über ihr gemeinsames Haus Europa kommunizieren. Das traditionelle Nationalisieren von Erfolgen und Europäisieren von Misserfolgen produziert letztendlich nur Verlierer. So war es doch reichlich naiv zu meinen, man könnte in Großbritannien die großartigen Vorteile der EU in ein paar Monaten vor dem Referendum erklären, nachdem man diese Vorteile über vier Jahrzehnte erfolgreich kleingeredet hatte.

 

Es braucht für jede einzelne Europäerin, jeden einzelnen Europäer zumindest einen prägenden „Erasmus-Moment“.

Weil Sie den BREXIT ansprechen – was wird er bringen?

Toggenburg: Viel Kosten. Und sehr viel Verunsicherung. Mehr kann man dazu nicht sagen, denn wie es die britische Premierministerin so schön hermeneutisch formulierte, „Brexit means Brexit“. Von Brexit kann man also nichts anderes sagen als dass er eine Nicht-Mitgliedschaft sei. Das Spektrum reicht daher von einer superpriviligierten Partnerschaft bis zur splendid isolation. Aufgrund dieses Lotteriecharakters konnte ich im Abhalten eines Referendums zum BREXIT keinerlei demokratiepolitische Errungenschaft erkennen. Das war eher ein direktdemokratischer Irrläufer in dessen Rahmen die Wähler der Regierung ein absurd weites Verhandlungsmandat eingeräumt haben. Was allenfalls Sinn gemacht hätte, wäre ein Referendum auf der Grundlage eines detailliert ausverhandelten Austrittvertrags. Da hätte das Volk gewusst, worüber es überhaupt gerade abstimmt.

Blicken Sie denn optimistisch in die Zukunft der EU?

Toggenburg: Wir müssen unsere Staatslenker beim Wort nehmen. Die haben am 25. März anlässlich der 60-Jahresfeierlichkeiten einen Text unterschrieben, der besagt, dass sie die EU „durch noch mehr Einheit und Solidarität ... stärker und widerstandsfähiger machen“ wollen, und sich hier insbesondere auf Sicherheit, Wirtschaft, Soziales und Außenpolitik bezogen. Zweitens, haben wir nicht nur in Österreich, sondern auch in Frankreich gesehen, dass man Wahlen auch mit einem sehr proaktiven Bekenntnis zum Europäischen Einigungsprozess gewinnen kann. Nicht umsonst hat sich daraufhin die Europarhetorik von Le Pen oder FPOE bereits etwas angepasst – man ist nun gegen die EU und gleichzeitig gegen einen Austritt aus dieser. Drittens, glaube ich doch an die Kraft der Rationalität. Unsere Enkel werden, global betrachtet, in einem deutlich älteren, kleineren, ärmeren und politisch unwichtigerem Europa aufwachsen. Vor diesem Hintergrund unseren Kontinent durch Renationalisierung weiter zu schwächen wäre ziemlich absurd. Das kann niemand wollen.

Wie sieht die EU in zehn Jahren aus?

Toggenburg: Auf der besorgten Seite würde ich meinen, dass jedes Siegesgeheul den Populisten und Co gegenüber verfrüht ist. Anstatt nationale Parolen zu plagiieren, sollte man diesen ihre Nahrung entziehen, indem man den Bürgern vermittelt, dass der Staat ihre Sorgen ernst nimmt. Was die EU als Wertegemeinschaft betrifft, so wird sich zeigen, was die EU Polen und Ungarn entgegenzusetzen hat - die Regierungen der beiden Länder sind im Begriff bedenkliche Sonderwege in Sachen Rechtsstaatlichkeit zu beschreiten. Die Vision eines Rückbaus in einen wertefreien Binnenmarkt halte ich nicht für lebensfähig, denn ein echter Binnenmarkt bedarf des Vertrauens das nur in einer Wertegemeinschaft erhalten wird. Aber der gegenwärtige Trend, dass die EU klein im Kleinen und groß im Großen sein will, wird sich wohl fortsetzen. Die neuen außenpolitischen Realitäten und die Erosion der transatlantischen Nähe lassen es auch möglich erscheinen, dass die EU zu einer echten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik findet. Es mag auch sein, dass das oft herbeigeschriebene Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten konkreter wird. Doch hier sind Grenzen gesetzt. Wo verschiedene Geschwindigkeiten gesagt, aber eigentlich ein Ende europäischer Solidarität gemeint ist, befindet sich Europa am Holzweg. Mal sehen.

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