Im russischen Café ohne Russisch zurechtkommen: Die Teilnehmer des Sprachendorfs müssen sich im Rollenspiel mehrsprachigen Herausforderungen stellen.

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Mit verschiedenen Sprachen umzugehen, macht uns kreativ, flexibel, schärft unser sprachliches und kommunikatives Bewusstsein – darin ist die Forschung sich längst einig. Wie sich diese Fähigkeiten speziell in der Schule erfassen, nutzen und fördern lassen, erkunden Linguisten von Eurac Research in einer einmaligen Studie.

In einem russischen Café im Untergeschoss von Eurac Research: Eine Griechin, die perfekt Deutsch und Italienisch und Englisch spricht, jedoch kein Russisch, hat Lust auf Borschtsch, aber auch eine Laktoseallergie – wie das nun der ausschließlich Russisch sprechenden Kellnerin beibringen? Ein Tischnachbar aus Deutschland kommt zu Hilfe, er hat einmal ein wenig Russisch gelernt. Der Lärmpegel sorgt dennoch für ein Missverständnis. „Pane?“ fragt die Griechin – „ja, warum nicht.“ Der Deutsche: „Nein, Sahne sagte ich – die Kellnerin meint, sie kann den Borschtsch ohne Sahne bringen.“ Die Suppe wird bestellt, eine große Portion, das zeigt die Griechin, indem sie zu den ausgebreiteten Armen der Kellnerin heftig nickt.

Wer da im Rollenspiel all seine sprachlichen Möglichkeiten ausschöpfte und sich zudem mit Händen, Füßen und Mimik weiterhalf, waren die Teilnehmer einer Konferenz zu Mehrsprachigkeit, die Mitte Mai im Forschungszentrum Eurac Research stattfand. Das russische Café war nur eine von zehn Stationen in einem „Sprachendorf“ voller Herausforderungen: Im gleichen Seminarraum gab es noch eine japanische Amtsstube, in der ein freundlicher Beamter beim Beantragen eines Ausweises half, ein Zimmer weiter galt es, sich in einem iranischen Internetshop und einem chinesischen Telefonladen zurechtzufinden. Weitere Situationen, in unserer Zeit globaler Mobilität sämtlich wirklichkeitsnah: von einem ungarischen Airbnb-Host die wichtigsten Informationen über das gebuchte Apartment bekommen; sich als Austauschschüler in Kroatien zu Wahlfächern anmelden; im Fundbüro von Disneyland Paris aus einer aufgelösten albanischen Mutter die nötigen Informationen für eine Suchdurchsage auf Französisch und Englisch nach der verlorenen Tochter herausbekommen. Das Babel ausgedacht haben sich Linguisten von Eurac Research, und zwar ursprünglich für eine Studie zur Mehrsprachigkeit, deren erste Ergebnisse sie auf der Konferenz „The Big Picture: repertori linguistici – Mehrsprachigkeit einmal anders“ vorstellten. Ausgehend vom wissenschaftlichen Konsens, dass Mehrsprachigkeitskompetenzen mehr sind als die Summe von Kompetenzen in einzelnen Sprachen, untersuchen Dana Engel, Lorenzo Zanasi, Verena Platzgummer und Joanna Barrett in dem dreijährigen Forschungsprojekt „RepertoirePluS“ an deutsch- und italienischsprachigen sowie ladinischen Mittel- und Oberschulen, über welche sprachlichen Ressourcen die Schüler verfügen, wie sie sie einsetzen – und wie man die sprachübergreifenden Fähigkeiten, die Mehrsprachigkeit mit sich bringt, empirisch erfassen kann.

Sprachenrepertoires lassen sich erheben: Die Wissenschaftler arbeiteten zu diesem Zweck einen umfassenden und detaillierten Fragenkatalog aus. Doch wie das sprachliche Potenzial im Einsatz beobachten? Dafür mussten sie sich etwas einfallen lassen – und kamen so auf die Idee mit dem Sprachendorf. Eigentlich ist es eine für den Fremdsprachenunterricht entwickelte Methode: In gespielten Alltagsszenen üben Schüler, das Gelernte auch außerhalb des Klassenzimmers zu gebrauchen. An mehrsprachige Situationen angepasst, diente die Methode bei RepertoirePluS dazu, jene wertvollen Kompetenzen, die die Forscher untersuchen wollen, überhaupt erst sichtbar zu machen. Deshalb wurden die Schüler, anders als die Konferenzteilnehmer, im Sprachendorf auch gefilmt. 32 Stunden Video warten nun auf Auswertung.

Die Ergebnisse können die Mehrsprachigkeitsforschung und -didaktik einen wichtigen Schritt weiterbringen. Denn so sehr die Wissenschaft sich mittlerweile einig ist, dass Sprachen in unserem Kopf nicht getrennte Kompartimente belegen, sondern miteinander in Beziehung stehen, interagieren und alle gemeinsam – auch Dialekte und Varietäten – so etwas wie einen großen sprachlichen Erfahrungsschatz bilden (der Begriff „Mehrsprachigkeit“ soll in Abgrenzung zu „Vielsprachigkeit“ eben dieses erweiterte Verständnis ausdrücken), so wenig gibt es bisher Methoden, um praktisch zu erfassen, was wir durch den Umgang mit verschiedenen Sprachen gewinnen: Geistige Flexibilität und Offenheit zum Beispiel, ein schärferes Bewusstsein für Sprache generell, einen aufmerksamen Blick für sprachliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede; ein „Plus an kommunikativer Kompetenz“ wurde es zusammenfassend auch genannt. Dieses „Plus“ bemessen zu können, hat gerade für die Schule große Bedeutung, wie Dana Engel erklärt: „Wenn man die Kompetenzen nicht in ihrer Gesamtheit erfassen und beschreiben kann – wie soll man dann wirkungsvolle Unterrichtsstrategien ausarbeiten, Lernziele definieren oder Fortschritte beurteilen?“ Für die Entwicklung sprachübergreifender Unterrichtsmethoden, wie sie an vielen Südtiroler Schulen schon erprobt werden, sind die Ergebnisse von RepertoirePluS deshalb von großem Interesse.

Die Vielfalt der Sprachenrepertoires der Südtiroler Schüler spiegelt die vielfältigen Einflusskräfte.

Der erste Teil der Studie, die Befragung von 240 Schülern zwischen 12 und 17, ist auch schon ausgewertet. Sie ergab ein Bild großen sprachlichen Reichtums: 45 Prozent der Schüler haben Kenntnisse in vier Standardsprachen, 30 Prozent in drei; die restlichen Schüler sprachen fünf bis sechs Sprachen, einige sogar sieben oder acht. Dazu kommen Dialekte und lokale Varietäten.

Die Vielfalt der Repertoires spiegelt die vielfältigen Einflusskräfte, unterstreicht Lorenzo Zanasi: Zum einen Grenzregion mit historischen Minderheiten und zu deren Schutz als Sprachraum extrem reglementiert, ist Südtirol gleichzeitig natürlich von den großen globalen Entwicklungen betroffen, steht durch Migration, Tourismus und Medien im ständigen Austausch mit der Welt; und gerade junge Menschen sind auch im Cyberspace zuhause und mit seinen sprachlichen Registern vertraut.
Was die Schüler aus ihren sprachlichen Möglichkeiten machen, soll nun die Analyse der Videos zeigen. Erste Ergebnisse erwartet man im Herbst. Wie die österreichische Universitätsprofessorin und Mehrsprachigkeitsexpertin Brigitta Busch bemerkte, bedeuten die Aufzeichnungen für die Forschung aber einen so reichhaltigen Fundus, „dass man damit zehn Jahre lang arbeiten kann.“

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