Würde jemand aus dem 19. Jahrhundert eine Zeitreise zu uns machen, würde er alles völlig verändert vorfinden. Alles, außer des Zugangs zur Musik. „Unser Zugang ist immer noch ein elitärer, gelehrt wird handwerkliche Perfektion“, sagt Professor Lee Higgins*, einer der wichtigsten Förderer eines ganz neuen Ansatzes der Musikpädagogik: Community Music.

Prof. Higgins, Community Music ist eines der weltweit erfolgreichsten musikpädagogischen Konzepte der letzten Jahre. Wie erklären Sie Laien den neuen Ansatz?
Prof. Lee Higgins: Die Erklärung setzt am besten beim derzeitigen Zugang zur Musik an. Er steht in sehr vielen Ländern immer noch nur den Privilegierten offen. Zudem lehren sehr viele, wie sie schon gelehrt worden sind. Es ist also ein Fortschreiben überlieferter Methoden, die die Schüler zu Perfektion anhalten. Nur keine Fehler machen!


Und das ist nichts, was in die heutige Zeit passt?
Higgins: Musik ist doch eines der Dinge, die uns menschlich machen. Da liegt die Idee einer kulturellen Demokratisierung nicht fern. Bei Community Music geht’s deshalb um die Menschen, um Inklusion und die Akzeptanz von Vielfalt, um den gleichberechtigten Zugang zur Musik, um den Ausdruck seiner selbst und um Kreativität.


Klingt, als würde man die Musikpädagogik öffnen – in jeder Hinsicht…
Higgins: Genau um diese Öffnung geht es. Musik ist im Community-Music-Konzept zwar zentral, oft aber nur ein Vehikel zum Erreichen anderer gesellschaftlicher Ziele, etwa die Förderung der Kommunikation und die Stärkung des Selbstwertgefühls Einzelner.

Community Music ist ein Ansatz, der die Musikpädagogik aus ihrem formellen Rahmen holt.

Wie setzt man diese hochgesteckten Ziele aber in die Praxis um? Wie funktioniert Community Music im Alltag?
Higgins: Community Music ist ein Ansatz, der die Musikpädagogik aus ihrem formellen Rahmen holt. Das heißt, dass man den Zugang zu Musik in unterschiedlichsten Situationen fördert, Workshops organisiert, sichere Umgebungen schafft, in denen man auch Fehler machen kann. Musik „passiert“ zwar ständig und überall in der Gesellschaft, wir verleihen diesem zufälligen Musizieren aber Interventionscharakter, planen, organisieren, schaffen für alle offene Zugänge. Nur so kann es auf die gesellschaftlichen Ziele ausgerichtet werden, die wir vor Augen haben.


Und was bedeutet das für die Musikpädagogen, die etwa an der bildungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Bozen in Brixen ausgebildet werden?
Higgins: Die Kollegen Antonella Coppi und Johann van der Sandt leisten hier in Brixen wichtige Arbeit, sie bereiten Community Music den Boden, öffnen neue Blickwinkel, schaffen ein Netzwerk für diesen neuen Ansatz. Das heißt auch: Man muss wegkommen von der Vorstellung, ein guter Musikpädagogen müsse nur ein guter Musiker sein. Vielmehr muss man den angehenden Musikerziehern auch andere Fähigkeiten beibringen: Sie müssen organisieren können, sie müssen Projekte planen und managen können, sie müssen ein Auge für Potential entwickeln.

Wenn ich aus dem Fenster schaue und eine Gruppe älterer Menschen sehe, dann sehe ich ein Potential für die Musik.

Ein Auge für Potential? Musikalisches Potential?
Higgins: Wenn ich aus dem Fenster schaue und eine Gruppe älterer Menschen sehe, dann sehe ich ein Potential für die Musik. Oder wenn ich an benachteiligte Menschen denke. Es geht hier auch um einen wirtschaftlichen Zugang, darum Unternehmergeist zu entwickeln.


Das ist nicht gerade das, was man sich vom klassischen Anforderungsprofil eines Musikpädagogen erwarten würde…

Higgins: Bis dato wurde Musik – überspitzt formuliert – mit dem Ziel gelehrt, Konzertpianist oder erste Violinistin in einem großen Orchester zu werden. Wie wir alle wissen, ist die Chance auf solche Karrieren klein. Wenn wir Menschen mit einem neuen, weiteren Blick auf die Musik ausbilden, dann schaffen wir auch Einkommensmöglichkeiten. Und wenn dann aus dem Musiker kein Konzertpianist, sondern ein Musikpädagoge wird, dann ist das keine Enttäuschung, sondern eine Chance.

Wenn man sich den Erfolg von Community Music betrachtet, scheint die Welt auf einen solchen Ansatz gewartet zu haben.
Higgins: Es tut sich derzeit enorm viel: das erste deutschsprachige Buch über Community Music ist erschienen, in Kanada gibt es nun eine universitäre Masterausbildung, eines meiner Bücher wird gerade ins Koreanische übersetzt. Es scheint, als wäre Community Music auch ein Ausdruck unserer Zeit – einer aufgewühlten Zeit. Es scheint, als gäbe es ein Bedürfnis nach einem Wandel, nach einer Musikkultur, die alle inkludiert. Und damit meine ich nicht nur, dass alle sie über ihre Kopfhörer hören…

 

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