Wenn die Schule eine fremde Sprache spricht
„Meine sitzengebliebenen Freunde von einst können keinen deutschen Brief schreiben, das durften sie nicht lernen. Sie können keine italienischen Briefe schreiben, das konnten sie nicht lernen, weil sie nicht einmal Deutsch konnten.“ (Claus Gatterer in seinem autobiographischen Roman `Schöne Welt, böse Leut´ über die Schule im Faschismus).
Wie sieht sie aus, die Alphabetisierung in Südtirol, kann ein jeder fließend lesen und schreiben oder gibt es Lücken, die wir nicht erahnen können, da die Betroffenen alles daransetzen, ihre fehlenden Kenntnisse zu kaschieren? Prof. Annemarie Augschöll Blasbichler hat an der Fakultät für Bildungswissenschaften vor zwei Jahren eine Forschungsarbeit gestartet, die sich mit der Alphabetisierung in der Fremdsprache auseinandersetzt.
Zum einen hat sie Südtirols dunkle Geschichte in Zeiten des Faschismus beleuchtet, als die deutsche Unterrichtssprache in der Schule verboten war und das Erlernen von Lesen und Schreiben in der italienischen Sprache sich vielen Teilen der Bevölkerung als traumatische Erfahrung eingeprägt hat. Zum anderen geht der Blick der Forscherin auf die Neuzeit, in welcher die Lehrerin in der Schule eine für Migranten fremde Sprache spricht. Die Erhebungen hat die Forscherin bisher in einem Aufsatz und einer Online-Ausstellung aufgearbeitet.
„Meine Studie verfolgt zwei Stränge – einerseits das Erlernen von Lesen und Schreiben in nicht-muttersprachlichem Kontext und das effektive Output – andererseits die Auswirkung auf die Persönlichkeit eines Menschen, wenn er diese Lernerfahrung nicht erfolgreich meistert“, umreißt die Leiterin des Forschungs- und Dokumentationszentrums zur Südtiroler Bildungsgeschichte an der Universität ihre Forschungsarbeit www.alfabetisierung.it . „Ziel ist eine um Verstehen bemühte Bildungsforschung“, so Augschöll weiter. Den Zugang dafür sucht die Forscherin in einem Sichtbarmachen der individuellen Perspektiven der Protagonisten auf die jeweils erlebten Alphabetisierungsrealitäten und deren Auswirkungen auf das spätere Leben der Einzelnen.
„Die Aphabetisierungsrealitäten zur Zeit des Faschismus und jene der Menschen mit Migrationsgeschichte heute sind in völlig unterschiedlichen zeitpolitischen und kulturellen Kontexten verortet, sowie pädagogisch und organisatorisch nicht vergleichbar implementiert. Daher lassen sie auch keine pauschale Gegenüberstellung zu“, präzisiert Augschöll.
Wie tief sich jedoch ein fehlendes Können von Lesen und Schreiben in die Persönlichkeit eines Menschen einprägt, thematisiert der Bestseller von Bernhard Schlink anschaulich: In „Der Vorleser“ wird aus Scham davor, als Analphabet geoutet zu werden, lieber jedes Mal die Existenz abgebrochen bzw. sich sogar eines Verbrechens schuldig gestanden, als zuzugeben, eine Analphabetin zu sein.
„Ein Fokus meiner Forschungen bezieht sich auf die Auswirkung von nicht gelungener Alphabetisierung von Menschen auf ihre Einstellung zu Bildung. Z.B. auch in ihrer späteren Rolle als Eltern von Schulkindern. Die transgenerationale Beleuchtung derartiger Erfahrungen hilft uns, gegenwärtige Resistenzen aber auch Ängste und Unsicherheiten zu verstehen“, so Augschöll. Gerade in der Lehrerausbildung sei eine entsprechende reflexive Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtig. Lesen und Schreiben in einer Fremdsprache Heute ist Alphabetisierung in einer Fremdsprache Teil der bildungsbiografischen Erfahrung von Kindern mit Migrationsgeschichte.
„Hier in Südtirol haben die Lehrer Geduld in der Schule. In Bangladesch hagelte es Schläge mit dem Stab, wenn ich etwas nicht wusste“, resümiert die heute 32-jährige Anuka aus Bangladesch. Für Anuka fand die wesentliche Alphabetisierung in Südtirol statt, also nicht in ihrer Muttersprache. Die Alphabetisierung ist in unseren westlichen Gesellschaften Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und aktive Partizipation. „Ich habe aus der Perspektive der Betroffenen evaluiert. Sie sollten sich zu ihrer Alphabetisierung selbst äußern – ein Umstand, der oft mit Scham behaftet ist. Dabei gibt es keine allgemein gültige Theorie, was eine nicht erfolgte Alphabetisierung aus einem Menschen macht“, so Prof. Augschöll Blasbichler. Der Unterschied der Erfahrungen während des Faschismus und der heutigen Zeit liegt in der formal erworbenen Kompetenz. Im Faschismus entstanden für Südtiroler deutscher Muttersprache große Lücken in der Alphabetisierung in der Mutter- und Fremdsprache. Die Protagonisten mit Migrationsgeschichte kamen aus unterschiedlichen Ländern nach Südtirol und lernten in einer deutschen oder italienischen Grundschule in Südtirol lesen und schreiben, also in der Zweit- oder Drittsprache. Beide Personengruppen hatten keine Möglichkeit, im Rahmen ihres Pflichtschulbesuches eine Alphabetisierung in der Muttersprache zu erhalten.
In Südtirol erhalten Schüler mit Migrationsgeschichte in Zusammenarbeit mit Südtirols Sprachzentren eigene Kurse. Oft ist aber die Freude, einen Sprachkurs zu besuchen, nicht sonderlich groß, wird er doch im Rahmen eines Wahlfaches, wenn die Klassenkameraden andere interessante Angebote wahrnehmen oder sich austoben können, angeboten. Auch ist das Verständnis der Eltern, die vielleicht selbst einen niedrigen Alphabetisierungsgrad in der Muttersprache aufweisen, oftmals nicht gegeben. Schwierig wird das Erlernen der zweiten Sprache, wenn zwischen Muttersprache und unserer Landessprache große Unterschiede in der Verschriftlichung liegen. Ein Beispiel dafür ist das von Menschen pakistanischer Herkunft gesprochene Punjabi. „Punjabi wird in mehr als 120 Versionen gesprochen. Als Schriftsprache wird es nur in Indien verwendet. In Pakistan ist die Schriftsprache Urdu eine zwar ähnliche, aber nicht identische Sprache“, erläutert Beatrice Tedeschi, Leiterin der Sozialgenossenschaft SAVERA und selbst interkulturelle Mediatorin für Urdu und Punjabi. Beide Sprachen kennen keine Artikel; Präpositionen, wie wir sie im Deutschen kennen, werden zu Post-Positionen, insbesondere der Gebrauch transitiver Verben erfolgt in einer eigenen Art und Weise, das Hilfsverb „sein“ dominieren, die Deklination erfolgt in drei Fällen – das nur einige der grammatikalischen Merkmale. Die Sprache setzt sich aus vielen Vokalen zusammen, die alle nasaliert werden können. Die Schreibrichtung erfolgt von rechts nach links, das Alphabet ist eine Variante des persischen und in der schriftlichen Kodierung völlig anders als die lateinische Schrift. „Die Begleitung von Kindern aus derartigen Muttersprachen fordert eine besondere metasprachliche Kompetenz sowohl im Muttersprach- als auch im Fremdsprachunterricht“, so Tedeschi.
Was aber macht diese Sprachlosigkeit, die fehlerhafte Sprache, mit den Menschen?
„Mir fehlte zu vielem der Anschluss“, beschreibt der ursprünglich aus Pakistan stammende Abadi seine ersten Schuljahre. Er selbst sieht sich als „Junge in einem Glaskasten". "Ich kann mich an die hellen Vorhänge erinnern und an die lustige Lehrerin und die aufgeweckten Kinder. Ich war wie beduselt. Meine Mutter hat mich jeden Tag zur Schule begleitet und ich sah in ihrem Blick, dass auch sie mit dieser Welt nichts anfangen konnte. Erst in der dritten Klasse konnte ich aus diesem Glashaus aussteigen.“
Das Gefühl des Fremdseins in der Schule sei ihm aber geblieben, so Abadi. Und er ergänzt sofort: „Meiner Mutter auch!“ In seinen Erklärungsversuchen wird seine Distanzierung der Schule gegenüber zu einer unausgesprochenen Solidarisierung mit seiner Mutter, die in Pakistan nur wenige Jahre zur Schule gegangen war und in Südtirol zurückgezogen lebt.
Die Unsicherheit des Vaters im Umgang mit ihm fremden gesellschaftlichen Verhaltenskodes ist wiederum Saiam von seinem ersten Schultag lebendig in Erinnerung geblieben. „Wir kamen im Winter von Pakistan, und das Schuljahr war schon halb vorüber. Mein Vater nahm mich in der Früh und ging mit mir zur Schule. Aber wir waren eineinhalb Stunden zu früh da. Wir standen im Finstern und es war kalt und ich fragte meinen Vater immer wieder, wann kommen die Kinder?“
Die Online-Ausstellung, die Prof. Augschöll zusammen mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern Emanuel Valentin und Sarah Trevisiol erstellte, soll einen Anstoß zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem Thema bieten. Das Kernstück sind Interviews mit Protagonisten der beiden genannten Alphabetisierungsrealitäten. „Sie zeigen auch auf, dass der Prozess der Alphabetisierung im Kindesalter immer von einer Reihe kontextueller Bedingungen beeinflusst ist, die von der Außenperspektive oft nicht einfach wahrnehmbar sind“, so Augschöll abschließend. Die Forschung ist Teil des Forschungsprojektes „Arbeitsmigration in Südtirol seit dem Zweiten Autonomiestatut“, eine Kooperation der Universität Innsbruck mit der Freien Universität Bozen finanziert über den „Wissenschaftsfonds Südtirol“.
Die Sprachbarriere zwischen Lehrpersonen und Schulkindern zur Zeit des Faschismus ist Anna wie folgt in Erinnerung geblieben: „Ich habe mich auf das Lesen- und Schreiben-Lernen sehr gefreut. Meine älteren Schwestern und mein Vater nutzten jede freie Minute fürs Lesen. Am ersten Schultag kam die große Enttäuschung. Der Lehrer, eine hagere Gestalt mit kohlschwarzem Haar, verstand kein deutsches Wort. Er nahm seinen Bleistift und zeigte auf die Landkarte und sagte immer wieder das Wort ‚Catania‘. Erst durch die Erklärungen meiner Geschwister zuhause verstand ich, dass er uns damit erklären wollte, woher er kam. In der Klasse saßen auch höhere Jahrgänge, die zum Teil gleich wenig verstanden wie die Schulanfänger. War es dem Lehrer wichtig, dass wir ihn verstanden, musste er sein Anliegen mit großer Gestik nonverbal unterstützt erklären. So hat er uns schon bald nach Schuljahresbeginn eindrücklich verdeutlicht, dass er die Kälte in diesem Gebirgstal nicht gewohnt sei und ihm dies sehr zu schaffen mache. Es gelang ihm, mit uns einen Deal abzuschließen. Er versprach allen Kindern, die ihm in Gemeinschaftsarbeit warme Socken und Handschuhe stricken würden, ‚dieci‘ im Zeugnis. Und zu Semesterschluss war ich dann auch bereits mit meinen sprachlichen Fähigkeiten soweit, dass ich mit nonverbaler Unterstützung die versprochene Zehn auch für mich einfordern konnte. Der Lehrer nahm wohl an, dass ich als Kleinste bei der Erstellung des Werkes nicht beteiligt gewesen wäre. Im Zeugnis stand die Note ‚nove‘, die er nach meinem Protest durchstrich und mit ‚dieci‘ ersetzte.“
„In Annas Erzählungen über ihr Zusammentreffen mit der institutionalisierten Bildungswelt Schule wird ein auf die Erschließung der Symbolwelt von Schrift gespannt wartendes Mädchen geschildert, das sich dadurch auch Teilhabe an etwas verhoffte, was im familiären Umfeld als interessant zelebriert wurde. Der Irritation durch die fremde Sprache begegnet sie resolut. Dieses Temperament ist wohl Teil ihres Charakters, der aber, so Anna, gleichzeitig auch von außen durch einen entsprechenden Familienhintergrund gestärkt wurde“, analysiert Augschöll. Einer der großen Unterschiede der Untersuchung zwischen den zwei in Fremdsprachen alphabetisierten Kindern ist jener Umstand, schulische Bildung als „Kapital“ zu sehen. Die Rahmenbedingungen unter denen im Faschismus schulische Bildung organisiert wurden, aber auch die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse der allermeisten Familie erschwerten Eltern und Kindern, in Schulunterricht etwas Brauchbares, Wichtiges zu sehen. Die Folgen zeigten sich erst später. Kinder mit Migrationshintergrund erhalten aber meist von ihren Eltern die Ermutigung, die Schule als Anschlussfähigkeit an ein System zu sehen. Eine erfolgreiche Alphabetisierung hilft im weiteren Leben, in der Gesellschaft erfolgreich Fuß zu fassen.
Der Artikel ist auf der Wissenschaftsseite der SWZ - Südtiroler Wirtschaftszeitung am Freitag, 19. Mai 2017 als Beitrag der Freien Universität Bozen erstmals erschienen.
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